Plötzlich wachen Eltern auf und erkennen ihr Kind nicht mehr. Das eigentlich so liebe und wohlerzogene Kind legt Verhaltensweisen an den Tag, die Eltern niemals für möglich erachtet hätten. Auf Nachfrage, was denn los sei, kommt häufig ein Schulterzucken, „nix“ oder „weiß nicht“. Damit ist das Gespräch dann auch schon wieder beendet.
Und so seltsam es sich für Eltern auch anhören mag, aber beide Antworten sind sogar korrekt. Grund dafür ist der präfrontale Cortex.
Was ist der präfrontale Cortex und was hat der mit meinem Kind gemacht?
Der präfrontale Cortex ist ein Teil des Frontallappens an der Großhirnrinde Er befindet sich an der Stirnseite des Gehirns und steuert unser Verhalten.
Es gibt inzwischen zahlreiche neurologische Nachweise, dass bei einer Verletzung dieses Stirnhirns die Intelligenz zwar weiterhin bestehen bleibt, das Verhalten aber plötzlich ungehemmt, aggressiv und taktlos werden kann. Vorausschauendes und auf Konsequenzen bedachtes Handeln ist dann nicht mehr möglich.
Während der Pubertät wird das Gehirn der Jugendlichen nicht verletzt, aber es befindet sich in einem Reset, in einer Neuausrichtung. Vereinfacht kann man sagen, es wird von vorne nach hinten ausgeschaltet und dann langsam von hinten nach vorne wieder neu gestartet.
Du kennst das vielleicht von Computer-Neustarts: Mitunter kann es passieren, dass während dem Reset oder im Anschluss daran erst einmal Chaos herrscht. Dieses Chaos ist die Pubertät.
Reset und die Hormone
Bei den Jugendlichen und ihrem Gehirn-Umbau kommt während der Pubertät noch ein weiterer Faktor hinzu: die Hormone.
Wusstest du, dass sich das Wort „Pubertät“ von dem lateinischen Wort „pubes“ ableitet? Das bedeutet „Schamhaar“. Denn die Hormone in dieser Zeit sind dafür verantwortlich, dass sich der kindliche Körper verändert und die Kinder nun äußerliche Körpermerkmale entwickeln und zu einem Mann oder einer Frau werden.
Entwicklungstechnisch handelt es sich bei der Pubertät um eine vollkommen normale Entwicklungsphase, ebenso wie die Babyzeit oder das Kleinkindalter.
Diese Hormone jedoch verändern nicht nur das Aussehen des Kindes, sondern auch dessen Gedankenwelt. Mit Logik wirst du bei einem pubertierenden Jugendlichen nicht weit kommen. Emotionen, Gefühle und Impulse sind die treibenden Kräfte während dieser Zeit.
Auch Belohnungen werden auf diese Art angestrebt. Umgangssprachlich gerne als „Kick“ bezeichnet, sind Jugendliche darauf bedacht, sich selbst in Form von etwaig riskanten Aktionen zu belohnen. Theoretisch wissen sie ganz genau, was richtig und was falsch ist, dennoch ist die Aussicht auf einen solchen „Kick“ stärker.
Was können Eltern tun?
Während in den ersten Lebensmonaten eines Kindes die Beziehung zwischen Eltern und Kind das wichtigste ist, geht es im Anschluss daran viele Jahre um die Erziehung des kleinen Menschen. Werte werden vermittelt, Regeln besprochen und auf gewisse Weise erfolgt eine Anpassung an die Gesellschaft.
Wenn das Kind nun ein Teenager ist, kommen Eltern mit Erziehung nicht mehr weiter. Stattdessen sollte während dieser Jahre wieder auf Beziehung gesetzt werden. Statt Strafen und Befehle lieber Lob und Anerkennung. Statt strengen Vorgaben von Regeln und Grenzen lieber ein gemeinsames Besprechen. Statt drastischen Mitteln lieber Verständnis und Geduld, viel Geduld.
Eltern, die versuchen, mit ihren pubertierenden Kindern Herausforderungen gemeinsam zu lösen und die zuverlässig als Zuhörer und Tippgeber an der Seite ihres jugendlichen Kindes stehen, haben eine große Chance, dass ihr Kind sie hinter die pubertierende Fassade blicken lässt und den Eltern so die Möglichkeit einräumt, die Gedankenwelt und Vorgehensweise zu verstehen.
Wir waren früher aber nicht so!
Welches Kind hat diese Aussage noch nie von seinen Eltern gehört? Wahrscheinlich gibt es nicht ein einziges Kind auf dieser Welt, das einen solchen Vorwurf noch nie erlebt hat. Und es gibt wohl auch keines, dass diesen Spruch nicht gehasst hätte. Zurecht, denn er ist anmaßend und schlichtweg nicht wahr.
Das Bild der Jugendlichen in der Gesellschaft ist kein schönes: Jugendliche werden als respektlos, leicht beeinflussbar, impulsiv, egoistisch und leichtsinnig dargestellt.
„Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer“
Kennst du das Zitat?
Wer nun glaubt, dass diese Aussage aus den letzten Jahren oder Jahrzehnten stammt, der irrt. Diese Erkenntnis stammt von niemand geringerem als Sokrates, der in der Zeit von 470-399 v.Chr. gelebt hat.
Ja, Jugendliche geben durchaus Versuchungen nach und testen ihre Grenzen, sie sind auf der Suche nach ihren eigenen Werten und treffen dabei vielleicht auch nicht ganz so kluge Entscheidungen. Als Eltern ist es wichtig, dass du dieses sich-selbst-finden nicht als Angriff auf dich und deine Erziehung siehst. Vielmehr handelt es sich, laut dem Familientherapeuten und Buchautoren Jesper Juul, um Dinge, die die Jugendlichen tun, um sich selbst zu finden. Helfen können Eltern dabei, indem sie ihrem Kind vertrauen.
Vertrauen bedeutet dabei nicht, dass Kinder alles tun, was die Eltern ihnen beigebracht haben und das unterlassen, was die Eltern als falsch erachten. Vielmehr bedeutet Vertrauen, dass Eltern ihren Kindern zugestehen, eigene Entscheidungen zu treffen und die Gewissheit, dass das Kind zu dem Menschen werden wird, der es gerne sein möchte. Das wiederum geschieht laut Juul auf dem Fundament, das Kinder in ihrem Elternhaus und von ihren Bezugspersonen über all die Jahre der Kindheit erfahren haben.
Nimm mich ernst!
Jugendliche sind auf dem Weg herauszufinden, wer sie sind. In diesem Vorhaben wollen sie ernst genommen werden und brauchen dennoch ihre Freiheit. Unterstützen können Eltern ihr Kind, wenn sie sich auf diese Entwicklung einlassen. Die Jugendlichen haben sich mit dem Beginn der Pubertät von der Welt, die sie bis dahin kannten, abgekapselt und schaffen sich nun eine neue. Wen sie in dieser Welt begrüßen und willkommen heißen, liegt allein bei den Jugendlichen selbst.
Doch auch, wenn dein Kind dich aktuell nicht in seine Welt einlädt: Bleib in Kontakt mit deinem Kind. Biete ihm immer wieder ein vertrauen- und liebevolles Ohr an, sei da für dein Kind und unterstütze es in seinem Tun. Begleite es auf seinem Weg ins Erwachsenenleben, doch tu das auf Augenhöhe, nicht mehr in der Rolle als Elternteil.
Mein Kind spinnt!
Im Winter ohne Jacke aus dem Haus gehen? Die Musik so laut aufdrehen, dass die gesamte Straße etwas davon hat? Statt mit Freunden zum Shoppen mal eben zum Piercer gegangen?
Das kann in der Jugend schon einmal vorkommen. Doch bevor du ausflippst und deinem Kind für den Rest deines Lebens Hausarrest verpasst, halte einen Moment inne. Einen klitzekleinen Moment. Lehn dich zurück, schließe die Augen und dann erinnere dich einmal an deine eigene Jugend. Hast du vielleicht auch den einen oder anderen Mist gebaut? Hast du vielleicht trotz aller Renovierungsprozesse in deinem Hirn damals richtige Entscheidungen getroffen?
Atme tief durch und vertrau deinem Kind. Es wird, wahrscheinlich wie du selbst ebenfalls, nicht nur richtige Entscheidungen treffen. Aber es wird aus diesen falschen Entscheidungen, wahrscheinlich wie du selbst ebenfalls, lernen.
Pubertät nicht schlimmer als andere Entwicklungsphasen
Zum Abschluss noch eine beruhigende Info: Forscher haben herausgefunden, dass die Streitigkeiten und Kämpfe, die Eltern mit ihren Kindern während der Pubertät erleben, nicht häufiger stattfinden als in anderen Entwicklungsphasen. Was anders ist, ist die Intensität. Besonders dann, wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kind besonders innig ist, werden die Kämpfe im Jugendalter als besonders schlimm wahrgenommen.
„Wenige von uns sind sich bewusst, wie nah wir unseren Kindern wirklich sind – bis wir sie an die Pubertät verlieren.“
(Michael Bradley, amerikanischer Psychologe)